21/11/2013 von beim Honigmann zu lesen
Rainer Patzlaff: Der gefrorene Blick
Praxis Anthroposophie, Verlag Freies Geistesleben (2000)
Zusammenfassung von Adelheid Klipphahn-Kramer
1. Sehen und Fernsehen
Im Gegensatz zum Betrachten eines Gemäldes, auf dem die Blicke frei umherwandern können, übt das Fernsehbild Zwänge aus. Das Sehen ist ein ak-tiver Vorgang, bei dem die Augenmuskeln verschiedene Ausschnitte aus dem Gesamtbild fixieren, um dieses zu erarbeiten.
Beim Fernsehen kann dieser Vorgang nicht stattfinden, weil der Elektronen-strahl auf der Mattscheibe einen winzigen Leuchtpunkt erzeugt, der mit Hilfe von Ablenkspulen über die ganze Bildschirmfläche geschickt wird. Das Fern-sehbild gleicht einem Mosaik aus 625-833 Einzelpunkten, die aber nicht alle gleichzeitig, sondern mit enormer Geschwindigkeit aufeinander folgen. Inso-fern kann der Zuschauer das Fernsehbild nicht in gewohnter Weise abtasten. Das Fernsehbild entsteht auf der Netzhaut ohne die gewohnten Augenbewe-gungen zu aktivieren. Vor dem Fernseher verengt sich auch die Pupille. Die Pupillenweite zeigt jedoch den Grad der Gehirnaktivität und Wachheit an. Wenn die Augenaktivität sich reduziert, überträgt sich die Starre auf den gan-zen Körper. Diesen „Bewegungsstau“ sehen wir deutlich bei den bewegungsfreudigen Kindern, die stundenlang ganz still vor dem Fernseher sitzen. Aktivitätsverhinderung bedeutet „Willensstau“ und Ich-Verhinderung. Patzlaff nennt das den „gefrorenen Blick“.
Vom Fernsehen geht eine augenlähmende Wirkung aus, die mit Hilfe des EEGs nachgewiesen werden kann. Vor dem Fernseher nehmen die für Wachheit und visuelle Aufmerksamkeit stehenden Betawellen (14…30 Hz) ab zugunsten der im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen vorherrschenden Alphawellen (8…13 Hz). „Demnach werden bei einem Fernsehabend weit weniger Kalorien verbraucht, als beim Nichtstun.“ (S.30)
Erstarren der Augenbewegungen, Auftreten der Alphawellen beim EEG, Absacken der Stoffwechselrate und Verringerung der Herzfrequenz könnten den Zuschauer in einen Dämmerzustand versetzten. Also müssen häufige Schnit-te, Um- und Überblendungen, Kameraschwenks, Zooms, Standort-, Situations- und Szenenwechsel den Zuschauer wach halten. „Der Sehwille wird an die Maschine abgegeben, und gaukelt der Marionette vor, es sei ihr eigener Wille, der hier tätig ist.“ (S. 31)
Kameratechnik und Dramaturgie sind geeignete Manipulationsmittel, die nicht nur Stress erzeugen, sondern auch politisch missbraucht werden können, sofern die Kritikfähigkeit abnimmt.
2. Fernsehkultur – Mythos und Realität
Als das Fernsehen die Welt eroberte, meinte man, es…
• erlöse den Einzelnen aus seiner Isolation
• werde im Alltag große Zeitersparnis bringen
• zeige den Menschen die Welt, wie sie wirklich ist
• werde den Volksmassen immer mehr Information erschließen
• werde die Bildung der Gesamtbevölkerung entscheidend heben
• werde die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten einebnen
• werde aktivierend auf die kognitiven Fähigkeiten der Zuschauer wir-ken
• werde den Kindern bessere schulische Leistungen ermöglichen
• werde das Verständnis für Politik fördern und die Demokratie stärken. ( alle Punkte Zitat S. 44, 45)
Doch die Forschung erbrachte Folgendes:
Die Einsamkeit wächst.
„Eine knappe Mehrheit der Bevölkerung ist also mittlerweile davon überzeugt, dass das Zusammenwachsen von Computer, Telefon und Fernseher die Einsamkeit vor den Apparaten fördert. Viele sehen in den neuen Multimedia-Möglichkeiten eher eine Geißel der Einsamkeit als einen Fortschritt der Kom-munikation“ (H. Opaschowski nach Patzlaff, S.4
Die Zeitfalle: Stress statt mehr Zeit.
Die intensive Nutzung von Computer, Telephon und Fernsehen in der privaten Freizeitgestaltung wirkt als Zeitfalle und nicht als Zeitsparer.
Unwirklichkeit und Angst
Das Programm wird gestaltet mit vorwiegend Problematischem und Negativem. Das bewirkt, dass der Einzelne die Welt für voller Schlechtigkeit und Gefahren hält und das Gefühl der Bedrohung, Angst und Misstrauen steigern. „Die angebliche Wirklichkeit wird also zum angsterregenden Phantom“ (S. 47).
Die Lesekultur geht zurück. Helmut van der Lahr hat in einer Studie von 1996 nachgewiesen, dass der Stellenwert der Buchlektüre in den letzten 15 Jahren in allen untersuchten Gruppen deutlich gesunken ist. Lesefähigkeit ist jedoch, wie er sagt, eine Schlüsselqualifikation für die psychische, soziale und intellektuelle Entwick-lung von Kindern und Jugendlichen. Sie bringt eine größere Sprachfähigkeit und damit Denkfähigkeit mit sich.
Je mehr Fernsehen, desto weniger Wissen.
Eine Spiegelstudie hat einen Zusammenhang von viel Fernsehen und wenig Wissen nachgewiesen. Da das Sehen beim Fernsehen mehr genutzt wird als das Hören, wird die Wissensaufnahme reduziert.
Die soziale Kluft vergrößert sich. Die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten haben sich nicht eingeebnet. Vielseher sind die mit der geringsten Bildung, und Vielleser verfügen über eine deutlich höhere Medienkompetenz.
Eine Mehrheit von Medien-Analphabeten.
Die Sozialforschung spricht von dem Kaspar-Hauser-Syndrom. Der Konsu-ment sieht auch nur das, was er sowieso schon weiß. Er bleibt in seiner Ent-wicklung stehen und läßt sich nicht mehr fordern.
Amerikanische Untersuchungen fanden durchweg negative Korrelationen der Sehhäufigkeit mit sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, mathematischem Können und Lesefertigkeit.
Statt politischer Mündigkeit wachsende Manipulierbarkeit
Nölle-Neumann folgert aus einer Langzeitstudie von 1952-1981: „Weitverbreitetes politisches Interesse – vielleicht sollte man sagen: Engagement -, aber Zurückbleiben der politischen Information, das wirkt bedrohlich: mehr beteilig-te Gefühle ohne Wissen, das bedeutet leichtere Manipulierbarkeit“ (S. 52).
3. Fernsehsucht
Die Illusionen, die das Fernsehen mit sich brachte, sind zerstoben. Das Fern-sehen hat die Massen nicht emotional und kognitiv gefördert. Einen Kulturfortschritt hat das Fernsehen nicht gebracht. Selbst die WHO zählt extensives Fernsehen zu den Suchtkrankheiten. Interaktives Fernsehen scheint auch nicht das Verhalten der Konsumenten zu ändern, weil das Fernsehen Passivität evoziert hat. Allerdings scheint ins öffentliche Bewusstsein zu geraten, dass Kinder, jährlich mit 40000 Werbespots versehen, inzwischen Konsum-terror gegenüber ihren Eltern ausüben. Das wirkt sich auch in der Nahrung aus, da hauptsächlich für überzuckerte Produkte geworben wird, was zu Übergewicht und Fettleibigkeit besonders bei Kindern und Jugendlichen führt. Außer den unzähligen Werbespots ist eine weitere offensichtlich unvermeidbare Botschaft des Fernsehens die Gewalt. Trotz der Katharsisthese (Aggressivität im Fernsehen baue Gewalt im Leben ab, weil sie sich nur in der Phantasie abspiele) und der Inhibitionsthese (Die Angst vor Gewalt hemme die Aggression) bleibt es richtig, dass die Ausführung der Gewalt in der Realität sich an Fernsehmustern orientiert.
4. Wie gehe ich als Erwachsener mit dem Fernsehen um?
Nach Patzlaff sollte man versuchen, sich in kleinen Schritten mehr Freiheit im Umgang mit dem Fernsehen zu erobern, indem man z.B. nicht einfach immer einschaltet, sondern bewusst aus der Fernsehzeitung auswählt, was man gerade sehen will und eine Zeitkontrolle durchführen. Man könnte Protokolle des Gesehenen anfertigen, um sich der Passivität des Fernsehkonsums zu entziehen. Man könnte auch die Berichterstattung über einen bestimmten Sachverhalt im Fernsehen mit der in der Zeitung vergleichen, und wird dann feststellen können, dass diese in der Lage ist, viel mehr Information zu bieten. Um sich dem Sog in die Passivität durch das Fernsehen zu entziehen, sind soziale, politische oder künstlerische Tätigkeiten hilfreich.
5. Kinder und Fernsehen
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Sie können erst ungefähr mit zehn Jahren Außen- und Innenwelt unterscheiden und sind vorher ganz mit der Ausbildung der Organe und des Gehirns beschäftigt.
Bis zum dritten Lebensjahr bilden sich neuronale Verbindungen aus, die, wenn eingeschränkt, nicht mehr im späteren Leben ausgebildet werden kön-nen. Bis zum vierten Lebensjahr bilden sich Aufrechtstehen, Gehen und die Koordination der Hände aus. Bis zum zehnten Lebensjahr entwickeln sich Feinmotorik der Hände und Gliedmaßen, die durch vielfältige Anregungen ge-fordert werden müssen. Bis zum vierten Lebensjahr entfalten sich Sehschärfe und plastisch- räumliches Sehen. Die Blicksteuerung der Augenmuskulatur steht sogar erst mit 18 Jahren voll zur Verfügung.Kinder müssen alles nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Leib erfassen oder begreifen. Fernsehbilder vom Palmenstrand, dann Großstadtgewühl oder nächtliche Luftaufnahmen sind für das Kind nicht zu begreifen. Seine Welt ist der Raum des Wohnzimmers in der der Fernseher steht. Es kommt zu einer pathologischen Spaltung des Wahrnehmungsvorgangs, die die Gehirnentwicklung beeinträchtigt. Die erzwungene Bewegungslosigkeit vor dem Fernseher kann mit Recht als Gewaltsamkeit gegenüber dem Kind bezeichnet werden. Da dieses nur durch Bewegung nachhaltig lernt. Scheuerle fasst zusammen: „In der normalen Sinnesentwicklung bauen die besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten aufeinander auf. Entsprechend ist das Versäumnis, in einer begrenzten Lebensphase bestimmte lebenswichtige Sinnensleistungen auszubilden, später oft nicht mehr nachzuholen“ (nach Patzlaff S. 80).
Fernsehen verhindert gerade Kenntnisse über die Welt, schränkt die Lesefähigkeit ein, verhindert die Trennung von Phantasie und Wirklichkeit, reduziert die Vorstellungskraft und führt zu Ruhelosigkeit und erhöhter Aggressivität.
Auch bei verantwortungsbewusst ausgewähltem Programm durch die Eltern sollten diese das Kind nicht alleine vor dem Fernseher sitzen lassen und zum Gespräch über das Gesehene bereit sein, denn die Kinder sehen durch die Welt der Eltern. Neben die Programmauswahl sollte eine Begrenzung der Fernsehzeit treten, und den natürlichen Tätigkeitsdrang der Kinder sollte man fördern und sie zu inneren Bildern und Vorstellungskraft anregen. Durch musisch-künstlerische Tätigkeiten, bewusste Pflege der gesprochenen Sprache, kreative Spiel- und Naturerlebnisse holen Kinder all das an Wissen wieder auf, was vermeintlich durch Begrenzung der Sehzeit vor dem Fernseher verloren gegangen ist. Sobald sich mit zehn Jahren Außenwelt und Innenwelt trennen, eine Innenwelt aufgebaut ist, kann man auch daran gehen, dem Kind einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Fernsehen zu ermöglichen. Dann mag man mit 16 im Jugendlichen einen kritikfähigen Juniorpartner haben.
6. Kindheit verstummt. Sprachverlust und Sprachpflege im Zeitalter der Medien
Leben wir wirklich in der offenen Informationsgesellschaft? Oder ist es nicht wirklich so, dass wir in einem Zeitalter des funktionalen Analphabetismus oder auch Postanalphabetismus leben, in dem die Fähigkeiten zu lesen und zu schreiben trotz absolvierter Schulpflicht wieder verlernt werden? In Deutschland sind 15% der über 15jährigen funktionale Analphabeten und zwar als Folge des Medienkonsums.1995 stellte eine Studie fest, dass in Deutschland durchschnittlich 15% der Achtkläßler ein Leseverständnis von Drittkläßlern hat. Es zeichnet sich in den OECD-Ländern eine Zweiklassengesellschaft ab, in der die eine Hälfte „intellektuelle Habenichtse“ sind und nur die andere Hälfte über Bildung und Wissen verfügt. So erzeugt die medienge-stütze Industriegesellschaft eine Wissenskluft, die der früher erhofften Chancengleichheit selbst die Grundlagen entzieht.
Neben die Schreib- und Leseinkompetenz tritt die Unfähigkeit zu sprechen. Die Fähigkeiten, zu erzählen und zuzuhören, Argumente gegeneinander ab-zuwägen und rational zu entscheiden, nehmen rapide ab. In zehn Jahren, zwischen 1986 bis 1996, haben die Sprachschwierigkeiten von Vorschulkindern um 20% zugenommen und zwar nicht nur bei sozial Schwachen, sondern auch bei Akademikerkindern.
Neben sozialen Faktoren ist der rasant angestiegene Fernsehkonsum bei Erwachsenen wie Kindern Ursache dieser Entwicklung. Sprechen aus dem Lautsprecher und Sprechen von Mutter zu Kind sind nicht dasselbe.
Die Kinesik wies nach, dass beim Sprechen und Hören die gesamte Körpermuskula-tur betroffen ist. Condon fasst es in folgende Worte: „Bildlich gesehen ist es, als ob der ganze Körper des Hörers in präziser und fließender Begleitung zur gesprochenen Sprache tanzte“ (S. 114). In drei Schritten vollzieht sich eine Bewegung vom Sprecher zum Hörer von gesprochener Sprache.
1. Der Hörer stellt sich mit seinem ganzen Leib auf den Sprecher ein und sein Kehlkopf spricht und singt mit, was der Sprecher spricht und singt.
2. „Die leibliche Bewegung verwandelt sich in eine seelische Bewegung, vom Bereich des tiefschlafähnlichen Unbewussten steigen wir auf in die Region träumerisch-halbbewusster Gefühle“ (S.116).
3. In einem dritten Schritt tritt die Bewegung ins Nervensystem des Kopfes und wird zur geistigen Bewegung von Begriff und Vorstellung im wachen Bewusstsein.
Die Bewegung vollzieht sich von unten nach oben:
Nerven/Sinne geistige Bewegung Verstehen vollbewusst Herz/Atem seelische Bewegung Empfinden halbbewusst Muskulatur leibliche Bewegung Tun unbewusst.
Beim Spracherwerb des Kindes geht es nicht einfach um Imitation der gesprochenen Laute, sondern das Kind bewegt sich synchron mit dem Sprechen des Erwachsenen und bildet damit sein Gehirn. Der Lautsprecher erweist sich als defizitär, da ihm das Ich, der Wille, die In-tention, der bewegliche Atem fehlen, die alle zusammen die synchrone Bewe-gung des Kleinkindes auslösen können. Schallwellen allein lösen keinen Lautbildungswillen bei Kindern aus. „Satzmelodie und Betonung, Klangfarbe und Tonfall, rhythmische Strukturen, Tonhöhe und Nuancierung der Stimme, Laut und Leise, Schnell und Langsam – das sind Elemente der Sprache, die beim kleinen Kind viel tiefer wir-ken als der Inhalt des Gesprochenen“ (S. 119). Sie sind nur in der Interaktion der gesprochenen Sprache zwischen Sprecher und Hörer zu aktivieren. Ab dem dritten / vierten Lebensjahr tritt aus dem rhythmischen Klang des Lautbildes die Vorstellung hervor. Diese wird beim Fernsehen nicht evoziert, sondern die Netzhaut des Kindes wird beschossen mit einem vorgeformten Bild. Im Umgang mit Kindern sollten wir uns einer bildhaften, konkreten Sprache bedienen, um die Phantasie der Kinder zu sti-mulieren. Nach der Pubertät können die Jugendlichen dann zu einer abstrak-teren Denkweise übergehen, bis in die Welt der mathematischen Form Maschinen sind nicht in der Lage, die Urkraft des von Mensch zu Mensch ge-sprochenen Wortes zu ersetzen, das den Menschen erst zum wahren Menschen macht.
Essen, im Oktober 2007 Adelheid Klipphahn-Kramer
Manfred Spitzer (Mediziner und Neurowissenschaftler): Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft
Klett Verlag
Zusammenfassung von Adelheid Klipphahn-Kramer
1. Einleitung
Sein Buch betrachtet sich als Informationsquelle zu Bildschirmmedien. Im Folgenden sind die Argumente gegen übermäßigen Bildschirmkonsum zu-sammengefasst, die das Fernsehen am gefährlichsten machen. Die Einteilung des Textes folgt den Überschriften im Buch. Die Fakten neurowissen-schaftlicher Erkenntnis machen die Ergebnisse noch plausibler, so dass das Exzerpt als Anregung verstanden werden kann, das Buch selbst zu lesen. Es ist kein Buch, das nur über die Gefahren handelt, die von der Gewalt im Fernsehen ausgehen, sondern eines, das das Verständnis der Zusammenhänge von Bildschirmkonsum auf vielfältige körperliche und geistig- seelische Folgeschäden erörtert. Manfred Spitzer hat sein Buch geschrieben, um davor zu warnen, dass es im Jahr 2020 in Deutschland etwa 40 000 Todesfälle durch Herzinfarkt, Gehirninfarkt, Lungenkrebs und Diabetesspätfolgen geben wird und dass es jährlich zu einigen 100 zusätzlichen Morden, einigen 1000 zu-sätzlichen Vergewaltigungen, und einigen 10 000 zusätzlichen Gewaltverbrechen gegen Personen kommen wird, wenn der Trend so weiter geht. Dagegen scheinen einige zusätzliche Schulprobleme in Form von Aufmerksamkeitsstörungen und Lese-Rechtschreibschwäche fast harmlos.
Spitzers These: Bildschirme machen krank, wirken sich negativ auf die Schu-le aus und führen zu vermehrter Gewaltbereitschaft.
2. Körperliche Gesundheit
Seit über 20 Jahren macht sich die Wissenschaft Gedanken über den Zusam-menhang von Medienkonsum und Gesundheit. Dabei hat man herausgefun-den, dass Fernsehen zu Übergewicht führt. Übergewicht und Dickleibigkeit haben in der westlichen Welt ein epidemieartiges Ausmaß angenommen. Sie sind Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen, erhöhten Cholesterinspiegel und Diabetes. Medienkonsum führt zu Altersdiabetes bei Kindern und Jugendlichen auf Grund von Übergewicht. „Wer vor dem Bildschirm sitzt, bewegt sich weniger und verbrennt weniger Energie; und er nimmt mehr Energie auf, weil er sich ungesünder ernährt“ (S.49). Mangelndes Selbstwertgefühl und Depressionen sind dazu weitere Folgen des Bildschirmkonsums.
3. Erfahrung und Aufmerksamkeit
Die Kaiser Family Foundation hat im Herbst 2003 eine Studie zum Medien-konsum von Säuglingen und Kleinkindern bis zu sechs Jahren veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass Kinder in den USA unter sechs Jahren bereits zwei Stunden ihrer wachen Zeit vor dem Bildschirm sitzen und nur weitere zwei Stunden spielen. Das gilt bereits für zweijährige Kinder. Nun stellt sich die Frage: Wie erschließt sich die Welt den Babies? Antwort: Durch den Zusam-menhang von Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Bei dem Konsum von visuellen Medien sind jedoch Bewegung im Bild und akustischer Laut nicht synchron und der Bildschirm ist flach und nicht zu schmecken und zu riechen. Also ist die Information reduziert und damit ärmer als die Realität, die es für das Kleinkind zu entdecken gilt. Das bei den Schulkindern so häufig festgestellte Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ist nach einer Studie von Christakis et al. (2004) Folge von Medienkonsum im Alter von 1,8 bis 3,8 Jahren. Die Kleinkinder müssen durch die Auseinandersetzung mit der realen Welt erst Regeln und Strukturen lernen, um Strukturen in den Medien erkennen zu können. Was geschieht nun, wenn ein Kleinkind einen substantiellen Teil sei-ner Erfahrung über den Bildschirm macht? Bildschirme vermitteln eine flache, verarmte Realität, gerade da ein Kind die Welt noch nicht kennt und ihm dieErfahrungen noch nicht ausreichen, um aus Vorerfahrungen Regeln und Muster zu ergänzen. Muttersprache und Regelerkennung sind noch nicht ausgebildet. Insofern schadet das Fernsehen unabhängig von dem gebotenen Inhalt. Der Bildschirm liefert dem Kleinkind weniger Struktur als die wirkliche Realität. „Man kann daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien (d.h. Ein Konsum von Bildschirm-Medien über einen substantiellen Zeitraum im Vergleich zur Gesamtzeit der kindlichen Erfahrung) eine geringe-re bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht“ (S. 91).
4. Gehirnentwicklung und Werbung
Werbung gehört neben Gewalt zu den wesentlichen Inhalten der Medien. Aber die Kinder können erst mit elf bis zwölf Jahren die strategische Absicht von Werbung erkennen. Das Frontalhirn ermöglicht dem Menschen, zielgerichtet zu handeln. Im Frontalhirn ist der Zusammenhang seines Handelns re-präsentiert. Bei Kindern sind diese Repräsentationen zum Teil noch nicht ausgebildet und müssen sich auch bei Jugendlichen erst entwickeln. Es ist also nicht egal, welche Erfahrungen Kinder machen. „Das Gehirn sucht sich gleichsam im Prozess seiner Entwicklung immer denjenigen Input heraus, der ihm gerade repräsentiert werden kann“ (S.115). Kinder können mit zwei Jahren Bilder von Waren mit den Verpackungen der Waren in ihrer Umwelt vergleichen. Mit drei oder vier Jahren gehören die Na-men der beworbenen Waren zu ihrem Sprachschatz und werden zu ihren Be-dürfnissen, die sie noch nicht aufzuschieben gelernt haben. Wir können den Kindern ihre Versessenheit auf Markenartikel nicht einmal übel nehmen. Be-sonders gefährlich ist die Werbung für Nahrungsmittel, da hier nachgewiesenermaßen hauptsächlich für fett- und zuckerhaltige Nahrung mit hohem Salzgehalt und wenig Vitaminen geworben wird.
Die normalen Kinder in Deutschland hatten im Jahre 1995 eine Kaufkraft von 19,1 Milliarden DM, und das ist für die Werbung interessant. 20% der Werbung richtet sich an Kinder. Was früher Schleichwerbung hieß, heißt jetzt selbstbewußt Product Placement, und so sieht man die dünnsten Models die dicksten Hamburger verzehren. Der Zusammenhang von Essen und Figur wird dadurch verschleiert.
5. Leistungen in der Schule
Fernsehen führt zu schlechteren Schulleistungen, und Computer im Kindergarten sind auch nicht der erhoffte „Nürnberger Trichter“.
In Deutschland sehen Kinder im Vorschulalter durchschnittlich 70 Minuten fern, die 6-9 Jährigen 1,5 Stunden und die 10-13 Jährigen knapp 2 Stunden. Der beliebteste Sender ist Super RTL mit Fiktion und Zeichentrickfilmen. Aber nicht der Inhalt allein zeitigt negative Wirkungen, sondern das Medium Fern-sehen selbst. Fernsehzeit nimmt Zeit für Sport, verschlechtert das Lesen ler-nen, nimmt Kreativität und verursacht oberflächliche Wahrnehmung, verhin-dert kritisches Denken und fördert Rollenstereotypen. 42% der Erziehung werden vom Fernsehen geleistet (Myrtek und Schaff 2000, S.140). Das heißt, dass Bildschirme für die ganz Kleinen grundsätzlich schädlich sind. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum im Kleinkin-dalter und Aufmerksamkeitsstörungen im Schulalter. Die empirisch nachgewiesenen Schäden kann man sich aus der Funktion des Gehirns durch die Bilder der Erfahrung erklären. Myrtek (2003) hat die negativen Wirkungen des Fernsehkonsums folgendermaßen nachgewiesen. Schlechtere Schulnoten sind die Folge vom Medienkonsum, die sich besonders in der Deutschnote niederschlagen. Die Kinder lesen weniger, führen weniger Gespräche und durch den hohen Zeitaufwand vor den Medien haben sie weniger Kontakte zu Freunden. Kritisch ist auch der Bewegungsmangel der Vielseher, Tätigkeiten mit hohem Energieaufwand, wie Fahrrad fahren oder Sport, kommen nicht zum Zuge. Das hat dann wieder Folgen, wie Kreislaufschwäche, Stoffwechselerkrankungen und Gelenkschwäche. Vielseher sind nicht nur schlechter im Lernen, sondern lernen auch langsamer als Wenigseher.
TV im Vorschulalter führt zu schlechteren Leistungen im Lesen und Schreiben in der Schule.
6. Gewalt im Fernsehen
Fernsehen und Computer sind intrinsisch nicht gewalttätig. Aber schon 1995 hatten die USA und Japan in 80% ihrer Sendungen Gewalt zum Inhalt, in Neuseeland und Australien waren es 65% der Sendungen und in Deutsch-land 50%. In den USA hat ein zehn- bis elfjähriges Kind bereits 8000 Morde und mehr als 100 000 Gewalttaten im Fernsehen gesehen, wobei in 73% der Fälle der Täter ungestraft davon kommt. Konflikte werden nur in 4% der Fälle gewaltlos gelöst. Die Kinder wachsen auf in dem Bewusstsein, dass es sehr viel Gewalt in der Welt gibt und dass es zu dieser Art der Konfliktlösung keine Alternative gibt.
In Deutschland sind in den letzten zehn Jahren die Gewaltdarstellungen von 47% auf 80% gestiegen. Der Zusammenhang von gesehenen Gewaltdarstel-lungen im Fernsehen und Gewaltbereitschaft im realen Leben ist in über 800 empirischen wissenschaftlichen Untersuchungen belegt worden (Lukesch et al., 2004). Für Kinder unter acht Jahren sind Gewaltdarstellungen im Fernsehen beson-ders fatal, weil die Kinder noch nicht zwischen Realität und Phantasie unter-scheiden können. Gewaltdarstellungen verstärken bei den Kleinen die Ag-gressivität und fördern antisoziales Verhalten, aber sie zeitigen auch Ängste, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Die Medien stumpfen die Jugendlichen gegen Gewalt und Gewaltopfer ab. „Schließlich führt Gewalt in den Medien zu einem ‚verstärkten Appetit‘ auf mehr Gewalt im Unterhaltungsprogramm aber auch im realen Leben“ (S. 205). Die Auffassung, Gewaltszenen im Fernsehen seien mit Meinungsfreiheit zu rechtfertigen, muss neu überdacht werden. Die freiwillige Selbstkontrolle der Medien funktioniert nicht. Manfred Spitzer stellt insofern die Frage: „Wann werden Politiker darauf reagieren?“ (S. 206 ).
7. Computer und Videospiel
In Videospielen wird Gewalt nicht nur konsumiert, sondern aktiv trainiert. Aktives Training führt zu einem besseren Lernerfolg durch die Identifikation mit dem Aggressor. Hier geht der Lernerfolg in die falsche Richtung. Bei Ego-Shooter-Spielen ist der Lernerfolg noch größer, zumal der Spieler bei man-chen Spielen sogar den Aggressor mit seinem eigenen Passbild ausstatten kann.
Da die Gewaltspiele nicht durch Werbespots unterbrochen werden, gibt es auch keine Zeit zum Nachdenken, für Empathie oder Schuldgefühle. Gewalt wird sogar belohnt, entweder durch Ansammeln von Punkten oder durch Er-halten neuer Munition etc. Außerdem hat man festgestellt, dass bei dieser Art von Videospielen Dopamin freigesetzt wird, so dass man nicht einmal mehr einen Suchtstoff verwenden muss, um die Aktivierung des Dopaminsystems hervorzurufen.
Dazu Spitzer: „Gewalt im Videospiel führt zu mehr Gewalt in der realen Welt“ (S. 241). Für Kinder und Jugendliche wird Gewalt zum Normalfall. Durch die Neuroplastizität des Gehirns führt es zu aktivem Einüben, Modellernen, sowie zum emotionalen und sozialen Lernen von Gewalt. Videospiele sind Einüben von Aggression als einziger Konfliktlösung. Sie setzten die psychologische Taktik der Desensibilisierung ein, wie sie bei Soldaten angewandt wird, um sie zum Töten zu befähigen.
8. Was tun?
Elektronische Medien – Fernsehen und Computer – haben, wie man in der Medizin sagen würde, Nebenwirkungen. Mit Hilfe von Neurowissenschaften und Physiologie kann man diese besser erklären und Konsequenzen ziehen.
Als Ausweg aus dem Dilemma schlägt Spitzer folgende Maßnahmen vor: Der Staat müsste die Werbung an Kinder für ungesunde Ernährung verbieten (siehe Zigarettenwerbung) Eltern sollten einsehen, dass Bildschirmmedien für Kinder und Jugendliche auf Grund der noch nicht ausgereiften Gehirnentwicklung schädlich sein können.
• Teletubbies und Ähnliches wirken wie eine Einstiegsdroge.
• Die Dosis an Zeitaufwand für den Medienkonsum kann man durch Fernsehtagebücher und elektronische Zeitbegrenzer reduzieren.
• Die Eltern sollten auf den Inhalt des zu sehenden Programms achten.
• Gewalt im Fernsehen führt zu Gewaltherrschaft sowie Fremden- und Frauenhass. Das sollten nicht die Inhalte sein, die wir unserer Ju-gend mit auf den Weg ins Leben geben.
• Die Medieninhalte kann man nicht allein dem Markt überlassen.
• Möglicherweise müssen für die öffentlich-rechtlichen Medienanbieter höhere Gebühren aufgebracht werden, damit sie nicht die kommerzi-ellen Anbieter nachahmen.
• Es wäre auch eine Besteuerung schädlicher Inhalte zu bedenken.
Deutschland hat nur den Rohstoff der Gehirne der künftigen Generation. Wir dürfen ihn nicht leichtfertig vergeuden.
Essen, im Oktober 2007 Adelheid Klipphahn-Kramer
Lesen Sie den gesamten Artikel bei: http://www.sichtwechsel.de/media/doc/7-Kurzbeschreibungen-Publikationen.pdf
…danke an TA KI und Kokolores
Gruß an die Fernsehfreien Kinder – Der Honigmann